Das Performance-Jahr

>Welcome to the 9/11 seminar.< Ein nicht all zu grosser Raum in dem neuen Seminargebaeude. Ich schliesse auf und gehe nach vorne, wo ich auf dem weissen Tisch meine Tasche, meine Laptoptasche, mein Notizbuch und diverse Buecher hinlege. Die Buecher geben mir ein bisschen mehr Sicherheit und Mut. Als ob Susan Sontag durch das Hardcover fluestern wuerde: "Ah, komm, reiss dich zusammen, das wird schon". Vor mir diverse hoffnungsvolle Gesichter: Studenten. Wir fangen an und ich hoffe, dass meine Stimme nicht zu sehr zittert, dass ich ueberzeugend klinge.

Am schlimmsten sind die ersten zehn Minuten, der Anfang. Jeden Dienstag um 12 zittern meine Haende zehn Minuten lang . Danach wird es besser, manchmal sogar richtig toll. Von Woche zur Woche lernen wir uns besser kennen und ich gewoehne mich langsam daran, auf der anderen Seite zu stehen. Diskussionen werden entspannter und spannender. Es ist ein Projekt von uns allen, ein Gedankenaustausch, der erstmal nur uns gehoert. Eine Performance, die ich mir jede Woche neu ausdenke, die ich jede Woche anfange und beende – eine Serien-Staffel mit vielen Protagonisten.

Wir lesen zusammen, diskutieren, sehen Filme und essen dabei Salzstangen. 2009: das Jahr der Seitenwechsel. Ich habe gelernt, so zu tun, als ob ich immer alles im Griff und unter Kontrolle haette. 2009: das Jahr der Gesichtsmaske. Fast alles fast immer unter Kontrolle. Nachdem wir Ian McEwans >Saturday< gelesen haben, meldet sich der kleine, ruhige, rothaarige N. unerwartet und schreit: >Es gibt doch nichts schlimmes im Glueck! Warum koennen Leute nicht einfach mal zur Abwechslung gluecklich sein?< >Ich sage nicht, dass es schlimm ist<, antwortet S., >ich sage nur, dass es langweilig ist! Ich lese und lese und warte, bis er sie betruegt, oder bis sie ihn verlaesst, und es passiert nichts! Ausser 9/11 vielleicht!<. Ah, schade, dass ich diesmal Susan Sontag nicht mitgenommen habe – sie wuerde sich totlachen! Stattdessen guckt mich Zizek durch seinen Band >Welcome to the Desert of the Real< komisch an und meint, ich solle die Diskussion sofort unterbrechen – bevor es zu weiteren fragwuerdigen Schlussfolgerungen kommt. 2009 endet fuer mich mit der Vorbereitung der Klausur, die die Seminargruppe in zwei Monaten schreiben wird. Dann geht die letzte Staffel zu Ende, wir alle gehen in unterschiedliche Richtungen. Danach werden auch Salzstangen anders schmecken. Meine Tops of the Pops 2009:

Ausstellungen:
1.Andreas Gursky [Moderna Musset, Stockholm]
2.Annie Leibowitz, C/O Berlin
3.Miroslaw Balka, How It Is, Tate Modern, London, UK
4.Nan Goldin, C/O Berlin
5.Bauhaus, Gropius Bau, Berlin
6.Gilbert and George, Arndt and Partner, Berlin
7.Jacek Malczewski, Muzeum Narodowe, Warszsawa

Filme:
1.Inglorious Bastards
2.A Serious Man
3.District 9
4.Rewers PL]
5.The Limits Of Control
6.Lejdis – deutsche Premiere 2009

Vollmilchschokolade:
1.Lindt
2.Ritter Sport
3.Alpen Sahne von Chateau [Aldi]
4.Wawel

5 Kommentare zu “Das Performance-Jahr

  1. Es ist nicht einfach von der anderen Seite zu stehen, man gewoehnt sich aber relativ schnell. Es ist eine Art der Schauspielerei Der rothaarige hatte recht, die Menschen sollen versuchen gluecklich sein, wenn nicht anderes dann zur Abwechslung

  2. Das Seminar als Performance-Kunst, okay, aber ich weiss nicht, ob man das braucht, diese Unterscheidung zwischen Seiten, hier und da, so wie “Sender und Empfänger” auch Schnee von gestern ist. oder?

  3. Schnee von gestern? Für mich ist es immer wieder neu und spannend zu beobachten wie schnell man die Seiten wechslen kann. Und in dem Zusammenhang passiert es, glaube ich, nicht jedem: wir müssen schliesslich nicht alle performen.

  4. Aber wechselt man wirklich die Seiten? Das ist schon eine spannende Frage und vielleicht insofern “alter Schnee”, als dass man doch immer auf beiden Seiten gleichzeitig ist. Nicht das Wechseln ist aufregend, sondern das Gleichzeitige… oder?

  5. @karolina: ich denke schon, dass alle performen müssen, online und offline, performen im sinne von eine rolle spielen, die je nach bühnenstück (lies: sozialem kontext) wechselt, insofern wechselt man nicht die seiten, sondern die rollen

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