Das Leben der Anderen

Im Jahre 1993 lenkte ein Vortrag ueber ein Projekt zum ost-westdeutschen Briefwechsel mein Interesse auf das Thema >geteiltes Deutschland<. Die Wissenschaftlerin, die diesen Vortrag gehalten hatte, suchte damals noch eine Mitstreiterin. Und fand sie in mir. Letztendlich war ich diejenige, die laenger dabeigeblieben ist und das Projekt zu Ende gebracht hat.

Sicher gibt es auch einen biografischen Hintergrund fuer mein Interesse an der geteilten Geschichte Deutschlands. Ich wollte vor allem verstehen, wie man zu einer Zeit, in der ich noch nicht lebte bzw. noch Kind war, mit der Grenze zwischen Ost und West umging. In den persoenlichen Briefen, die ich fuer meine Dissertation schliesslich untersucht habe, konnte ich noch viel mehr finden, als nur Antworten auf diese Fragen.

In meiner wissenschaftlichen Beschaeftigung mit der Differenzkonstruktion Ost/West habe ich u.a. festgestellt, dass ihre Mechanismen anderen typisch modernen, dichotomen Denkmustern sehr aehnlich sind. Verschiedene Ethnologen argumentieren, dass der Osten historisch betrachtet die politische, gesellschaftliche und kulturelle Peripherie bildet und jenseits dessen steht, was Westeuropa rein geografisch begrenzt.

Die kulturelle Ostgrenze bildet demnach die Grenze, an der das zivilisierte, fortgeschrittene, entwickelte Westeuropa dem zurueck gebliebenen, unzivilisierten und barbarischen Osteuropa gegenueber steht. Aber auch auf andere Weise funktioniert die Ost-West-Differenz aehnlich anderer Differenzkonstruktionen. Die Unterscheidung stuetzt auf der kulturellen Ebene soziale Ungleichheit, legitimiert sie gelegentlich gar. Sie stabilisiert Machtverhaeltnisse mit Hilfe von Stereotypen, Vorurteilen und Marginalisierungen, wie sie im >Jammer-Ossi< oder >Besser-Wessi< klarer kaum formuliert werden koennten. Die klare kulturelle Unterscheidung in Ostdeutsche und Westdeutsche ist ein deutliches Nachwendephaenomen. Natuerlich konnte es an bestimmte Entwicklungen anschliessen, die bereits waehrend der deutschen Teilung im Gange waren. Einerseits stellte die Idee einer gemeinsamen deutschen Nation im Laufe der Jahre fuer die DDR-BuergerInnen immer weniger ein ueberzeugendes Identifikationsangebot dar. Freunde und Verwandte im anderen Teilen Deutschlands, zu denen man Kontakt hatte, wurden immer staerker als >anders< wahrgenommen. Andererseits teilte man im Laufe der Jahre auch mit Menschen in anderen osteuropaeischen Laendern die Erfahrung, was es hiess, sein Leben unter den Bedingungen des Sozialismus zu gestalten. Auf Dauer waren die Vorstellungen von einer grenzuebergreifenden Gemeinschaft aller Deutschen also nicht mehr ohne weiteres in Uebereinstimmung mit den Alltagserfahrungen der DDR-Buerger zu bringen. Genauso wenig hat sich aber ein neues Selbstverstaendnis als StaatsbuergerInnen der DDR herausgebildet. Das Anfang der 1970er Jahre mit der Idee einer >sozialistischen deutschen Nation< von Seiten der DDR-Regierung gemachte Angebot blieb ein ideologisches Konstrukt. Eine Aneignung durch die DDR-Buerger erfuhr es nicht. Fuer die Zeit vor 1989 lassen sich deshalb keine festen Deutungen von dem ausmachen, was bzw. wer waehrend der Zeit der deutschen Teilung als das >Eigene< und wer oder was als das >Fremde< galt. Das wechselte zum Teil situativ bzw. musste immer wieder ausgehandelt werden. Vor allem Hinweise auf ein Selbstverstaendnis als >Ostdeutsche< liessen sich keine finden. Mit dem Ende der DDR aenderte sich das. Die einstigen DDR-Buerger waren herausgefordert, wieder neu Position im Gesamtdeutschland zu beziehen, ihr Verhaeltnis zu diesem Gesamtdeutschland neu zu definieren. Auf Grund ihrer Vorgeschichte bot sich ein kulturelles Repertoire fuer verschiedene Wege. Zum einen blieben traditionelle Vorstellungen von Nation und eine beharrliche Ausgrenzung des Fremden anschlussfaehig. Zumindest stand aber zu erwarten, dass die Menschen jetzt [endlich] ihre Zugehoerigkeit zur gesamtdeutschen Nation einfordern wuerden, die ihnen durch den DDR-Staat politisch verweigert worden war. Zum anderen eroeffneten die bereits gemachten Erfahrungen mit wechselnden, mal nach Ost, mal nach West ausgerichteten Zugehoerigkeiten auch die Moeglichkeit einer Oeffnung fuer neue, postnationale Identitaetskonstruktionen. Zu der Erfahrung uneindeutiger Identifikationen waehrend der DDR-Zeit kamen zudem nach der Wende Erfahrungen mit Lebenssituationen, die als Zwischenzustaende bezeichnet werden koennen. Bedingt wurde dies durch einen dynamischen Wandel, in dem sich postsozialistische Transformation und Globalisierungsprozesse ueberlagerten. Und in einem solchen gesellschaftlichen Zusammenhang sind kaum homogene und kontinuierliche Identifikationen zu erwarten, sondern eher eine ganze Spanne zwischen konservativen Rueckbezuegen auf >heile Welten< in der Vergangenheit bis hin zu hybriden Identitaetskonstruktionen mit wechselnden Bezuegen. Und dieses ganze Spektrum finden wir jetzt auch vor. Abschliessend noch eine kurze Episode als Ausblick: In einem Seminar zu diesem Thema stellte eine Studentin fest, die zwar in der DDR geboren war, aber sich nicht mehr an das Leben damals erinnern kann, weil sie noch ein kleines Kind war: >Ich habe das Gefuehl, das Ostdeutsche im Blut zu haben.< Sie meinte damit, dass sie zwar als >Ostdeutsche< von anderen wahrgenommen wird, aber eigentlich gar nicht versteht, warum und was genau das bedeutet. Nur vermittelt ueber ihre Eltern - ueber Blutsbande also - erhaelt sie Bilder von der DDR als ihrem Herkunftsort. Wie sich solche Identifikationsmuster generationell fortpflanzen und immer wieder einen Anker in den gegenwaertigen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen finden, um neue Plausibilitaet zu erlangen -ich glaube, das gibt uns in Zukunft noch einige Raetsel auf.

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