Das Ikea-Prinzip – politisch gewendet

Heute unsere Freiheit, morgen unser Überleben: Ständig steht unser Platz in der Gesellschaft auf dem Spiel. „Kreative“ – was tun? Selbstorganisation ist das Gebot der Stunde! Als Best-Practise-Beispiel kann das von Berliner Gazette-Herausgeber Krystian Woznicki initiierte BQV dienen.

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Kürzlich haben in Berlin über 250 „Kreative“ das „Büro für Qualifikation und Vermögen“ (BQV) zum Leben erweckt, einen Ort für Austausch und Allianzen. Warum gibt es das nicht dauerhaft? Warum gibt es das nicht auch in anderen Städten? Wir beantworten diese häufig gestellten Fragen mit einem Appell: Mach dein eigenes BQV!

Ein BQV ist kein Allheilmittel für „Kreative“. Aber es ist ein Anfang. Es ist der Schritt in die Öffentlichkeit – heraus aus der Küche, in der du mit Freunden sitzt und über Existenzfragen und Zukunftsängste diskutierst. Warum solltest du das wollen? Vielleicht hast du genug. Nicht von deiner Küche. Aber davon, dass die Diskussionen nicht wirklich vom Fleck kommen. Dass nichts passiert. Vielleicht willst du etwas bewegen, wenigstens in deinem eigenen Leben, und denkst, dass das zusammen mit anderen besser geht. Dass andere, die noch nicht in deinem vertrauten Küchenkreis verkehren, dich in neuer Weise inspirieren könnten.

Du schaust dich um in deinem Umfeld, suchst nach Zeitgenossen und fragst sie als „ExpertInnen ihrer selbst“ zu Gesprächen an – das ist der erste Schritt beim selbstgemachten BQV. Dann: Finde einen Versammlungsort! Es sollte ein Raum sein, der gewohnte Grenzziehungen aufhebt und neue Vermischungen ermöglicht. Eben nicht die Galerie oder die stets frequentierte Buchhandlung. Sondern die Schneiderei oder Bäckerei.

Unzählige solcher Läden haben in deiner Nachbarschaft geschlossen, wenn dein BQV öffnen könnte. Nachdem ein Ladenbesitzer überzeugt ist, gilt es seinen Laden temporär umzugestalten. Dann kann es auch schon losgehen: Themen finden, Prozesse moderieren, Ergebnisse festhalten, weiterdenken. Und dann?

Schaut her: Das fehlt!

Wir, die MacherInnen von berlinergazette.de haben das BQV initiiert, weil auch uns Existenzfragen und Zukunftsängste rotieren lassen. Seit dreizehn Jahren arbeiten wir am Rande des Existenzminimus, stets im Modus der Selbstorganisation. Nun haben wir uns eine Grundsatzfrage gestellt: Wie sehen die ökonomischen Rahmenbedingungen für unser Schaffen aus? Und: Was halten wir eigentlich von der „Kreativwirtschaft“ und ihrem Unternehmer-Ideal? Eine Plattform zur Auseinandersetzung musste her, irgendwann nannten wir sie humorvoll „Büro für Qualifikation und Vermögen“, kurz BQV.

Als wir mit dem BQV loslegten, hatten wir bereits schon einmal eine imaginäre Einrichtung gebaut – an drei Tagen im Sommer 2011 eröffnete unser Labor für DIY-Bildung. Wie auch damals wollten wir nun mit dem BQV ein Zeichen setzen. Schaut her: Das fehlt! Das brauchen wir! Wir wollten die Leerstelle modellhaft füllen – temporär, utopisch. Nicht zuletzt um auf diese Weise zu zeigen: Was fehlt, das können wir auch selber machen.

Ja, Selbstorganisation ist möglich! Auch ohne oder mit sehr begrenzten finanziellen Mitteln. Das wissen wir aus eigener Erfahrung. Für unser BQV-Vorhaben haben wir eine Förderung bekommen. Sie hat uns ermöglicht das Ganze im größeren Stile zu dokumentieren und daraus ein kommunizierbares Best Practise Case zu machen. Wofür?

Appell zum Selbermachen

Es gibt immer mehr „Kreative“ in Deutschland. Doch nur die wenigsten sind organisiert. Ein Dach, unter dem alle „Kreativen“ zusammenkommen, scheint undenkbar. Der Theatermacher tickt eben anders als der Game-Designer. Doch selbst partikulare Initiativen – in Berlin etwa die Koalition der freien Szene oder Haben und Brauchen – lassen sich an einer Hand abzählen. Wir wenden uns in erster Linie an alle, die noch nicht Teil einer selbstorganisierten Gruppe sind.

Auf der Projekt-Webseite zeigen wir Bilder, die im Mai und Juni in unserem BQV entstanden. Unser Prozess wird transparent, nachvollziehbar. Und regt hoffentlich zur Nachahmung an. So bieten wir nicht nur eine Dokumentation, sondern auch eine Bauanleitung, die beliebig angewendet und angepasst werden kann: Das BQV zum Selbermachen – in fünf Schritten.

Natürlich nicht als Selbstzweck. Nicht als willfährige Reproduktion der Ikea-Kultur. Sondern, um politische Prozesse in Gang zu bringen: Debatten, Initiativen, Petitionen, Kampagnen. Sagen wir: Das Ikea-Prinzip politisch gewendet.

Anm.d.Red.: Weitere Inspirationsquellen finden sich auf der Projekt-Webseite: Ein Dokumentarfilm (Premiere am 29.8.) sowie weitere Ressourcen, Links und Materialien. Last but not least haben wir einen Email-Verteiler eingerichtet: eine offene elektronische Plattform. Über diesen Weg können Fragen und Anfragen zum Selbermachen des BQV gestellt werden. Auch der Erfahrungsaustausch im Allgemeinen ist hier möglich. Das Foto oben hat Leonie Geiger aufgenommen und es zeigt den Musiker Dirk Dresselhaus alias Schneider TM vor dem BQV.

5 Kommentare zu “Das Ikea-Prinzip – politisch gewendet

  1. Krystian, Du weißt es ja, dass ich Eure Arbeit mag und schätze. – Die Worte “kreativ, Kreative, Kreativsein, Kreativität…” sind mir zuwider, weil seit vielen Jahren abgegriffen und immer mehr in den Hobbybereich abgedriftet. – Der schöpferische Mensch – der Künstler, der Autor, der Musiker u.a. – ist ein anderer.

  2. @#1: ich habe auch meine Probleme mit dem Begriff. Aber die haben v.a. damit zu tun, dass mit dessen Konjunktur alle schöpferischen Tätigkeiten unter ökonomischen Gesichtspunkten betrachtet werden: also eine betriebswirtschaftliche Professionalisierung – quasi das Gegenteil deiner Beobachtung, die eine Amateurisierung meint, oder?

  3. fragt sich: Professionalisierung wovon? Amateurisierung, bzw. Hobbyisierung wovon? geht es um die Kunst? oder geht es um den Haushalt?

  4. @#3: also wenn sich die “Kreativen” betriebswirtschaftlich profesionallisieren, und zwar so, dass an erster Stelle eben die Markttauglichkeit der eigenen Arbeit steht, ist es mehr als wahrscheindlich, dass diese Professionalisierung die kreative, schöpfersische Schaffen selbst (zumindest in seiner Qualität) zum Hobby verkommen lässt…

    Diedrich Diederichsen sagte dazu im BQV: eine solche Kunst sei nicht wirklich Kunst, sondern bestenfalls ein Symptom.

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