Das Gemeinsame ist politisch

Der Begriff der Gemeinschaft in seiner politischen Dimension war lange diskreditiert. Als Gegenbegriff von Gesellschaft bildete er ein natuerliches, identitaeres, organisches, urspruengliches, reines, nicht-relationales, essentialistisches Reservoir an Ueberzeugungen, aus dem sich identitaetslogische Politiken jeder Art [nationalistische, kolonialistische und so weiter] bedienen konnten und noch koennen. >Gemeinschaft< liefert[e] das vormoderne Programm einer modernen Ueberwaeltigungs- und Machtmaschine, deren ahistorische Organik den Menschen, paradox genug, nicht braucht, weil er nur ist, was er sein kann, weil er wird, >was man ist.< [Friedrich Nietzsche: Ecce Homo. Wie man wird, was man ist]

Wenn der Begriff der Gemeinschaft gegenwaertig an verschiedenen Stellen wieder eingefuehrt, entdeckt oder schlicht beibehalten wird, durch poststrukturalistische Theorien des Politischen oder spaetkapitalistische Nostalgieprodukte, dann, weil er auf vertrackte Weise doppelt attraktiv ist: Er ist unscharf genug, um ihn neu, anders und utopisch fuellen zu koennen; er ist determiniert genug, um aus seiner ueberreich gefuellten Tradition unermuedlich schoepfen zu koennen. Einer Politik der Gemeinschaft kann man daher ueberall begegnen, in der Mikrologik alltaeglicher Handlungen, in der Makrologik kultureller Konfrontationen. Der italienische Philosoph Roberto Esposito beschreibt dieses Phaenomen modischer Gemeinschaften so: >Es scheint, als waere nichts mehr an der Tagesordnung als ein Denken der Gemeinschaft: als sei in den Zeiten einer Krise, die das Scheitern aller Kommunismen und das Elend der neuen Individualismen der Epoche zu einem unentwirrbaren Knaeuel verstrickt, nichts so angebracht, eingefordert, ausgerufen. Und dennoch ist nichts so wenig in Sicht.<

Nichts in Sicht? Was ist ausserhalb der Sicht, der Sichtweisen, der Blickwinkel, der visuellen Bahnen und Schneisen, die Individuen miteinander verbinden? Zumindest nichts Beschaubares, vielleicht. Dietmar Daths Vermerk, Jugend und Freundschaft sei erst dann interessant, >wenn man gemeinsame Interessen hat, die abstrakter sind als Schwimmbad und Lego< oder so, scheint mir insofern richtig zu sein, als Freundschaft dann entsteht, wenn das Gemeinsame, hier besser: geteilte Interesse an der Form von >Schwimmbad< und >Lego< – sprich an den Konventionen des Interesses fuer etwas – in seiner Alltaeglichkeit geweckt wird. Diese Figur von Gemeinschaft erfindet fuer sich eine metapolitische Position, die nicht mehr mit Prozessen der Aushandlung, Durchsetzung, Ein- oder Ausschliessung beschaeftigt ist, sondern nur noch mit der Entfaltung der gefundenen formalen Uebereinstimmung. Es ist diese Herkunft, dieses >gemeinsame Interesse< als >gemeinsames Interesse<, der man, einmal gefunden, immer wieder begegnet, und die Verbindungen, Freundschaften usw. stiftet.

Das laesst sich auch etymologisch, philosophiehistorisch formulieren. In seiner Herleitung des Gemeinschaftsbegriffs fuehrt Roberto Esposito exemplarisch vor, dass unter dem Radikal >munus< etwas ganz und gar Unbestimmbares zu verstehen ist, etwas, das nur ungefaehr durch Termini wie Pflicht, Schuld, Schuldigkeit, Gabe, Verpflichtung ersetzt werden kann. Denn mit >munus< ist die Muehe verknuepft, eine bindende Kraft von Individuen untereinander zu bezeichnen, die weder in den Individuen selbst, noch in den Entitaeten enthalten ist, die fuer diese Verbindung gelegentlich einstehen: Verein oder Parlament, Familie oder Nation. Dieser Einwurf, aus dem Esposito eine Kritik der Geschichte der modernen Philosophie seit Hobbes entstehen laesst, bringt die Erfahrung von >Gemeinschaft<, wie sie in der verpflichtenden Haltlosigkeit einer Freundschaft oder Zuneigung zum Ausdruck kommt, auf den Punkt. Das >Politische< einer solchen Gemeinschaft liegt darin, sich erst hervorzubringen zu muessen.

Dieser Punkt trifft ziemlich genau die Grundlage der von anderen und mir organisierten Vorlesungsreihe >Zur Politik der Gemeinschaft< an der Heinrich-Heine-Universitaet Duesseldorf. Frage war, was unter Gemeinschaft heute alles verstanden wird, werden kann und ich welcher Hinsicht dieses Verstaendnis mit dem Begriff der Politik respektive des Politischen zusammenhaengt. Dabei verstanden wir die Veranstaltung selbst [und zwar in einem ganz und gar unemphatischen Sinn] als eine Politik der Gemeinschaft, die sich gegen jenen neoliberalen Kurs an den Universitaeten stellt, der sich damit bruestet, die Studierenden als Kunden und nicht als Produzenten zu betrachten. >Gemeinschaft< hiess fuer uns, diese Position miteinander zu artikulieren, nicht mehr, nicht weniger. Daraus erwaechst kein Modell, keine Empfehlung, sondern nur eine Praxis. Alles weitere dazu in dem entsprechenden Buch >Politik der Gemeinschaft<.

Zurueck zum Begriff: In Gemeinschaft mag also alles gelten, nur keine Gleichgueltigkeit. Der heilige Ernst dieses Konzepts unterschlaegt zuweilen jedes andere, das die >Geschichte< des Gemeinsamen erzaehlt, indem es auf die Widerstaende der Historie abhebt. Es sei an Friedrich Nietzsche erinnert: >vielmehr giebt es fuer alle Art Historie gar keinen wichtigeren Satz als jenen, der mit solcher Muehe errungen ist, aber auch wirklich errungen s e i n s o l l t e, – […] dass etwas Vorhandenes, irgendwie Zu-Stande-Gekommenes immer wieder von einer ihm ueberlegenen Macht auf neue Ansichten ausgelegt, neu in Beschlag genommen, zu einem neuen Nutzen umgebildet und umgerichtet wird; dass alles Geschehen in der organischen Welt ein U e b e r w a e l t i g e n, H e r r w e r d e n und dass wiederum alles Ueberwaeltigen und Herrwerden ein Neu-Interpretieren, ein Zurechtmachen ist, bei dem der bisherige >Sinn< und >Zweck< nothwendig verdunkelt oder ganz ausgeloescht werden muss.<

>Gemeinschaft<, in dem weiter oben bestimmten Sinn, als das Interesse an der Form des Interesses, hat eine bestimmte Praxis zur Folge, die eine genealogische Praxis ist, weil sie sich an den Widerstaenden der Interpretation als Interpretation orientiert. Um es kurz zu machen: >Does Humor Belong In Music?< [Frank Zappa] Does Community Belong In Music? Does Community Belong In Writing? Does Community Belong In Everything? Gemeinschaft ist immer dort, wo Musik, Schreiben und alles andere sich an sich selbst aufhalten und Musik, Literatur und alles andere davon handeln, wie genau dieses gehandelt wird.

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