Catwalk City

Menschenmengen draengen sich durch eine Einkaufsstrasse in New York. Der einzige Ruhepol ist ein Mann mit Falten im Gesicht. Langsam bewegt er sich vorwaerts, hat mehrere Einkaufstueten in den Haenden und traegt eine rote Latex-Basecap.

Eine divenhaft gestikulierende, sichtlich in die Jahre gekommene Frau radelt bei regnerischem Wetter durch die Strassen Londons – mit einer Plastiktuete auf dem Kopf, hochhackigen Holzschuhen und einem silbrig-transparenten Regenmantel.

Diese Bilder kann man sich bestens als Stills aus einem retrospektiv gestimmten Vivienne-Westwood-Werbeclip vorstellen. Actually: Das Berliner Modemagazin >Style< macht derzeit mit aehnlichen Bildern Werbung fuer sich selbst auf MTV. Doch sind die beiden Momentaufnahmen aus London und New York keine Modefotos, sondern Fotos von ganz gewoehnlichen Menschen auf der Strasse, erschienen im europaeischen >Street<-Magazin, das den Buergersteig zum Laufsteg auserkoren hat. >Reclaim Fashion< schallt es aus diesen Bildern. Ein Appell, der sich von >Reclaim the Streets< ableitet und darauf vieldeutig bezieht: Der Punk-Spirit der Fotos suggeriert, dass >Politik mit dem Warenkorb< [Mussiolek] auch zu einer Re-Politisierung des urbanen Raumes fuehren kann. Doch: Dass der oeffentliche Gehweg zum Laufsteg geworden ist, zeitigt nicht nur Gutes. Reporter, Kameras, Blitzlichter - alle Blicke sind auf den idealen Koerper gerichtet, eine Situation, die man mit dem Ueberwachungszustand in den Shopping Malls dieser Welt vergleichen kann. Ein weiteres Bild aus dem >Street<-Magazin foerdert diesen Umstand zu Tage. Mittags in einer Seitengasse abseits des Rummels in Tokio: Zwei japanische Kleinkinder, ganz in Jeans, halten den Leopardenfummel ihrer Mutter in den Haenden, waehrend ein schwerbehaengter Rocker auf seiner Harley an ihnen vorbeirauscht. Im Hintergrund: Stumme Menschentrauben generieren einen gleichmaessigen Strom. Es ist wie in George Lucas’ Film >THX 1138< - ein Leben im Bunker namens Grossstadt. Tauchen wir weiter ein: Am Horizont dieser Strasse taucht das Gesicht einer jungen Frau auf. Regungslos. Der Koerper ist wie eine Statue. Scheint jedoch auch unter Strom zu stehen, scheint die massive Distraktion der Umgebung mit jeder einzelnen Pore zu verarbeiten. Was ausserdem sichtbar ist, kann mit dem Interieur einer mexikanischen Kirche verglichen werden: Ornamental bis ins kleinste Detail; Kringel, Woelbungen, geschwungene Wurmfortsaetze. Eine wahnsinnige Dichte an Informationen: inkrustierend und intraabdominal anmutend. Wie gesagt: Nicht innen, sondern aussen, auf ihrer Haut, genauer auf ihrem mit exzentrischen Stoffelementen bedeckten Koerper breitet sich ein Mosaik aus. Einzelne Bausteine: Modular, verrueckbar, ohne festen Sitz und Halt. Diese Oberflaeche korrespondiert hier mit dem polyphonen Signalrauschen der Umwelt, verhaelt sich komplentaer zu ihr. Japanische Philosophie, die auf eine durchlaessige Subjektgrenzen setzt, koennte man dahingehend zuspitzen: Die besagte Oberflaeche entsteht erst [i]durch[i] die invasive Umwelt. Diese Umwelt ist eine Stadt der Zeichen, wie sie etwa Roland Barthes 1970 beschrieb. Ueber die Dekaden haben sich die Zeichen zu immer intensiveren Stroemen verdichtet. Zu Stroemen, die leiten, selbst wenn sie desorientierend anmuten. Die Shopping Mall nimmt in Tokio als eine Agglomeration von Informationen Gestalt an. Kontrolle ist hier nur sekundaer ein Frage von Polizeimassnahmen und Videoueberwachung. Primaer handelt es sich um Datenstroeme, die Wege vorgeben, Bahnen blockieren, die lenken und steuern. Wer heute Snapshots von wandelnden Kirchen-Interieurs in Magazinen wie >Street< betrachtet [das uebrigens nach einem gleichnamigen Magazin in Japan benannt worden ist], nimmt sie als exotische Ausnahmeerscheinungen wahr. Und doch: Wie >Street< von Japan nach Europa kam, so wird frueher oder spaeter auch Shopping Mall-Tokio in Europa ankommen...

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