Behindert durch Barrieren: Das offene Karten-Projekt wheelmap.org im TÜV

Gegen die Bauverordnung verstoßen? Und auch gegen lang erkämpfte Errungenschaften in Sachen „Zugang zur Bildung für alle“? Für viele selbstverständlich. Vermutlich auch in Ihrer Stadt. Da gilt es Gegenöffentlichkeiten zu schaffen. Einen Versuch startete wheelmap.org und lancierte die erste interaktive Karte zum Thema Barierrefreit. Aber geht das engagierte Projekt auch radikal genug mit den Barrieren in unserer Gesellschaft um? Die Autorin Anett Zeidler hakt nach.

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wheelmap.org, ein Projekt der Sozialhelden, ist eine interaktive Karte im Netz, auf der Menschen barrierefreie und nicht barrierefreie Orte in ihrer Stadt eintragen können, die dann wiederum für (alle) Menschen im Internet abrufbar sein sollen. Ob Bibliothek, Café, Kino oder U-Bahnhof; hier werden Orte erst dann als barrierefrei eingestuft, wenn alle Räumlichkeiten für alle Menschen zugänglich sind, so heißt es in der Projektbeschreibung.

Definition von Barrierefreiheit

Der Fokus liegt allerdings auf der Zugänglichkeit für RollstuhlfahrerInnen, wobei – neben dem Anspruch auf generell barrierefreie (Sanitär-)Räume – die Höhe der Eingangsstufe als ausschlaggebendes Kriterium gesetzt wird: Diese gilt erst dann als barrierefrei, wenn sie nicht höher als sieben Zentimeter ist. Barrierefreiheit ist aber weitaus differenzierter zu konzipieren als nur durch eine Zentimeterzahl.

Die Definition von Barrierefreiheit stellt sich auf wheelmap.org selbst als ambivalent dar: Die OrganisatorInnen weisen auf der einen Seite darauf hin, dass unabhängig von einer eventuellen Behinderung, Einrichtungen barrierefrei gestaltet sein müssen. Was auf eine breiter gefasste Definition von Barrierefreiheit schließen lässt. Doch auf der anderen Seite wird darauf verwiesen, dass diese Plattform keine Lösungen für Menschen darstellt, die schwer oder gar nicht sehen können und/oder schwer oder gar nicht hören können.

Ein Bewusstsein über eine notwendige Erweiterung des Netzwerkes scheint somit zwar vorhanden, jedoch noch weit von einer Realisierung entfernt. Im Moment bleibt der Zugang zur Plattform durch die nicht-barrierefreie Aufbereitung von wheelmap.org noch vielen Menschen verwehrt.

Imagination des “gesunden” Körpers

Eine Ausweitung des Konzepts sollte vor dem Hintergrund bestehender Richtlinien des Behindertengleichstellungsgesetztes (BGG) als auch darüber hinaus durch die generelle Dekonstruktion hegemonialer Standards und Ableism geprüft werden. Hier gilt es zum Beispiel auch die Stigmatisierung als ‘Mensch mit Behinderung’ in Referenz zu ‘Mensch ohne Behinderung’ aufzubrechen.

Menschen erfahren – neben zum Beispiel rassifizierenden, klassifizierenden und genderfizierenden Differenzlinien – Ungleichheiten und Schlechterstellungen auch dadurch, indem sie entlang der Achse „Behinderung vs. Nicht-Behinderung“ eingestuft werden, die Nicht-Behinderung dabei als Norm gesetzt wird und die so gesetzte Norm sich auf gesamtgesellschaftliche Strukturen auswirkt.

Die Imagination des gesunden Körpers, der den leistungsorientierten Standards der sogenannten Mehrheitsgesellschaft Dienst leisten soll, verwirklicht sich hier in der sozialen Praxis: in Geist und Architektur; in mentalen und realen Strukturen.

GegenÖffentlichkeiten wider die Norm

Um auch über den Raum im Internet hinaus GegenÖffentlichkeiten wider die Norm zu schaffen, sind Aktionen in der zwar imaginiert für alle gleich zugängigen, faktisch aber Ungleichheit schaffenden Öffentlichkeit erforderlich.

Aktionen irritierender Performanz auf der Straße und im Netz können Brüche in normativen Denkmustern schaffen, Druck aufbauen und den als ‘behindert’ stigmatisierten Körper von der Peripherie in ein Zentrum rücken, welches sich selbst im Kontext interdependenter Machtverhältnisse verortet (bzw. verorten sollte).

So könn(t)en barrierefreie Zugänge auch kollektiv imaginiert, konstruiert und in die soziale Praxis umgesetzt werden und bleiben dabei dynamisch und offen für neue Ansätze und Bedürfnisse. wheelmap.org verharrt in archaischen Denkmustern und (re-)produziert, wenn auch ungewollt, dichotomisierende Vorstellungen um einen ‘nicht-gesunden’ Körper in Referenz zur imaginierten Norm. Gut gemeint, zu kurz gedacht.

18 Kommentare zu “Behindert durch Barrieren: Das offene Karten-Projekt wheelmap.org im TÜV

  1. Den Text habe ich ja recht einfach verstanden, aber die Autorenbiografie liest sich wie ein labyrinthisches Schachtelkonstrukt elaborierter Seminarcodes…

  2. @ markus: Diese Kritik ist im Rahmen von Wissenschaftskritik und auch im Rahmen postkolonialer Theorie-Schreibung nichts neues. Da wäre meine erste Antwort: Komplexe Dinge sind nun mal nicht einfach zu beschreiben. Darüber hinaus soll meine Autor_innenbiografie den Standpunkt meines derzeitigen Erfahrungs- und Beschäftigungsbereichs darstellen. Da wäre es Meiner Meinung nach arg ignorant, leider aber oft praktiziert, mein Forschungsinteresse als auch mein politisches Interesse durch eine oftmals verkürzte Aneinandereihung von Begriffen auszudrücken, ohne meinen Standpunkt zu diesen zu beschreiben. Eine solche Selbst(re)präsentation ohne eigenen Standpunkt wäre konträr zu den theoretischen Ansätzen die ich vertrete.

    Ebenso dürfte klar werden, dass für mich die Schreibweise teil der Dekonstruktion selbst ist. Und die verschieden miteinander verstrickten Herrschaftsverhältnisse die mein und aller Menschen Leben je nach Position unterschiedlich gewichtet beeinflussen, sind nun einmal nicht einfach zu analysieren und/oder zu dekonstruieren.

    Was mich interessiert: Was willst du mir mit deiner Kritik sagen? Wie du selbst sagst ist der Artikel verständlich – was willst du mehr? Wie ich mich selbst in und durch mein Autor_innenprofil positioniere dürfte ja wohl noch mir überlassen bleiben.

  3. Dass das Grimm-Zentrum nicht nur für Behinderte sondern für alle Besucher ein barierreunfreies Gebäude ist, missfällt mir schon seit der Eröffnung. Die Schließfächer in einem im UG befindlichen, nur mit einer schmalen Treppe zugänglichen Räumchen aufzustellen, ist eine Katastrophe. Ich versuche es zu vermeiden, dort Bücher ausleihen oder arbeiten zu müssen.

  4. Ich hatte das mit dem Grimme-Zentrum auch schon gehört, was ich aber nicht verstehe: Wie konnte es dazu kommen? Und: Wieso gibt es keinen Protest, der den Bau und seine Bauherren zum Umdenken zwingt?

  5. @Silvia
    Wie es dazu kommen konnte? Gedankenlosigkeit, Inkompetenz… http://www.refrat.de/huch/pdf/HUch63.pdf
    http://www.stupa.hu-berlin.de/sitzungen/2010/06-11 (4.7. Barrierefreiheit)

    Protest? Zum einen ist Barrierefreiheit kein Mainstreamthema. Zum anderen gibt es nicht wirklich viele politisierte Leute bzw. Leute, die Zeit haben sich neben dem Sammeln von Credit Points zu politisieren. Darüber hinaus spielten wohl auch ästhetische Vorlieben namens Minimalismus eine Rolle ;)

    Die Bauherren zum Umdenken zwingen? Das heißt der HU Druck machen. Und wer sitzt da? Vorrangig die normierte Dominanzgesellschaft. Einiges passiert bereits. Es hat Begehungen, Mängellisten, Pressemitteilungen, Anträge im Akademischen Senat und im Studentischen Parlament geben und der Bildungssteik hat das Thema aufgegriffen. Leider. Auch daran geschuldet, dass es viele weitere Baustellen gibt, an denen HU Strukturen ausgrenzend und Ungleichheit schaffend sind. Wer macht den Großteil der Arbeit? Die Studis!

    Es sollen Richtlinien erarbeitet werden, nach denen die HU (und gerne auch weitere Unis) zukünftig bauen, denken, konzipieren soll. Wie die genau aussehen wird sich zeigen. Wer Lust hat sich da mehr zu engagieren, kann mich gern mal kontaktieren…

  6. Es soll heißen: Leider auch daran geschuldet, dass …. Sonst könnte das hier missverstanden werden. Schon spät…

  7. Viele Worte, sehr sehr viele Worte: 14 mal “mich, mein, mir” dazu noch ein “ich” auf knapp 23 Antwortzeilen. Sprachpsychologisch durchaus interessant und das jetzt bitteschön ohne jegliche inhaltliche Wertung, mit Verlaub!

  8. @Jorge: Wie wäre es mal mit konstruktiver Kritik am Inhalt bzw. einer Beschäftigung mit diesem? Über die Bedeutung und Verwendung von Possessiv- und Personalpronomen bin ich mir im Klaren. Wende dich dem WAS ich sage zu und du wirst auch das WIE des Erzählens verstehen.

  9. Dachte die Zeit für derart dekonstruierte Sprachexperimente und Ausbeutungskritische Monophilosophien, mit verbissener Fixierung auf Gender-, Gewalt- und Machtpolitik, sei mit dem letzten, abgerissenen Kalenderblatt von 1979 langsam verebbt?

  10. @ anna: Ist denn die Revolution tatsächlich passiert? bzw. so nachhaltig passiert, dass wir uns alle wieder schön brav mit dem Gegebenen zufrieden geben dürfen?

  11. @anna, rainald, max: Postkoloniale Theorie ist alles andere als monophilosophisch. Verbissen ist das Festhalten an ausgrenzenden, klassifizierenden, rassifizierenden, genderfizierenden, geabelten Normen.

    Was heißt verebbt? Weil nicht mehr notwendig zu artikulieren oder weil sich niemensch artikuliert, bzw. nicht gehört wird? 1979 als Datum für das Ende von Gender-, Gewalt- und Machtpolitik? Habe ich dich da richtig verstanden?

    Dazu habe ich nur zu sagen:
    Wer meint er*_sie* sei frei, hinterfragt nicht woher das Wort liberté kommt. Wer meint er*_sie* sei emanzipiert, hinterfragt nicht die Bilder, die die normierte Frau* als freie= weiße,nackte,schlanke,gesunde Frau konzipieren. Schöne Freiheit die ich da habe und die tausende von Mädchen in den Hungerwahn und/oder patriarchalische Abhängigkeitsverhältnisse stürzen (auch und gerade auch in Europa!!!).
    Wer meint er*_sie* sei frei, sieht nicht, dass Emanzipation und Gleichstellung am Körper von Frauen* ausgehandelt werden und dass das oben beschriebene, normierte Verständnis von Freiheit als Maßstab in Aushandlungen um Bekleidungscodes etc. verwendet wird.

    Es wird kein letztes Kalenderblatt geben solange nicht die strukturelle Verankerung von Ungleichheit im Gleichheits-Begriff selbst erkannt wird.

  12. Gut gekontert, beste Anett! Lassen Sie sich nicht beirren in ihrem unermüdlichen Kampf, das ist eine sehr wichtige Aufgabe! Unausgegorene Zwischenrufe wird es immer geben..

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