Basteln ist die beste Bildung

Ich habe als Dreizehnjähriger, im Jahr 1982, erstmals mit einem Computer experimentiert. Obwohl Protestant, war ich Mitglied einer Gruppe der Katholischen Studierenden Jugend. Unser Gruppenleiter, damals 17, war Atheist, DJ und Elektronikbastler, später Informatikstudent und hauptberuflicher Programmierer.

Sein Computer, den ich mir 1983 auch selbst anschaffte, war ein Sinclair ZX-81, mit 8-bit CPU, Folientastatur, einem Kilobyte RAM und einer Audiobuchse als Kassetten-Speicherinterface – für damals 150 Mark der preiswerteste Heimrechner. Besagter Gruppenleiter hatte das Businterface des ZX-81 angezapft und mit einer selbstgebauten Lichtorgel verbunden, um seine New Wave-Rock-DJ-Sets mit einer programmierten Lightshow zu begleiten.

Schulstunden vertrieb er sich damit, Mondlandungen auf seinem unter der Schulbank versteckten programmierbaren Taschenrechner zu simulieren.

Computer, Dada, Punk

Ab 1984 benutzte ich verbotenerweise selbst so einen programmierbaren Taschenrechner bei Mathematikklausuren, um Gleichungen schneller zu lösen. Computer waren eine außer- und gegenschulische Subkultur. Im Kontext von Punk und New Wave, aber auch bei meiner Rezeption von Dada und Fluxus, interessierte mich damals vor allem die Zufallsfunktion. Diese Funktion verwendete ich für die Texte meiner Fanzines und für obskure 8-bit-zufallsgenerierte Musik, die ich auf Kassetten vertrieb. Einer meiner damaligen Fanzine- und Musik-Kollaborateure war Herbert A. Meyer, damals noch vom Musikprojekt Wagner Schallschutz, den ich mehr als ein Jahrzehnt später im Umfeld diverser Netzkulturinitiativen wiedergetroffen habe.

Erst Ende der 1980er Jahre wurden Computer als Textverarbeitungsmaschinen interessant. Im schulischen Kontext brauchte man sie vor allem zum Setzen von Schülerzeitungen und politischen Flugblättern. Ich war Anarchist und organisierte an meiner Schule zwei Schülerstreiks. Zur selben Zeit zogen damals, dank des Berliner “CULVIS”-Projekts (“Computer unterstützen Lernen und Verstehen in der Schule”) das Fach Informatik und Unix-Terminals in den Schulunterricht ein. Den Texteditor, auf dem ich auch heute noch alles – einschließlich dieses Texts hier – schreibe, lernte ich so kennen, aber erst zehn Jahre später auch schätzen.

Lesen und Ausprobieren

Bereits durch meine primitiven zufallsgenerierten dadaistischen Gedichte konnte ich lernen, wie deterministisch die Maschine arbeitet, wie fragwürdig daher der Begriff “Zufall” ist und wie begrenzt beziehungsweise nicht vorhanden das Sprachverständnis von Computern. Meine Kritik an computergenerativer und aleatorischer Kunst und an künstlichen Intelligenz-Prophezeiungen, die ich mehr als zwanzig Jahre später unter anderem in meiner Doktorarbeit formuliert habe, hat hier ihren Ursprung.

Meine zwei besten Freunde waren ebenfalls Computerfreaks – von ihnen war auch einer Mitglied in der katholischen Jugendgruppe. Heute arbeiten sie in Computerjobs an der Schnittstelle von Künsten und Medien. Für alle von uns war der Computer jedoch keine Dauer- und Zentralbeschäftigung, sondern eine Technologie von vielen, neben Musikinstrumenten und -elektronik, Foto- und Filmkameras.

Abgesehen von einem Jahr gymnasialen Informatikunterricht, der wesentlich aus einfachem Programmieren in Pascal bestand und kaum über das hinausging, was ich schon von 8-bit-BASIC-Computern her kannte, habe ich nie in einer kollektiven Computer-Lernumgebung gearbeitet. Computer und später das Internet waren vor allem Mittel, um sich durch Lesen und Ausprobieren Dinge selbst beizubringen, was fast immer schneller geht und interessanter ist als Kurse.

Albtraumhafte Lernumgebungen

Die Albträume computerisierter Lernumgebungen existieren bereits in schulischen Intranets und anderen Web-basierten Höllen, die Lern- und Arbeitsumgebungen genannten werden. Ich empfinde selbst Wikis, Content Management-Systeme und jede Form des Schreibens in Browser-Formularfeldern als Vorstufen dieser Hölle. Nichts desto trotz, und unter Abwägung aller Vor- und Nachteile, spielt sich ein relevanter Teil des Studienprogramms, das ich heute leite, auf einem Wiki ab.

Von der Forderung Schulfach Interneterziehung halte ich gar nichts, von einem Schulfach Informatik, das allen Schülern informationstechnische Grundlagen, einfache Programmierkenntnisse und somit ähnliche Einsichten liefert wie in meiner eigenen Homecomputer-Zeit, hingegen sehr viel. “Interneterziehung” impliziert nicht nur pädagogische Bevormundung, sondern auch eine fatale Sicht des Internet als fertigem, von anderen gestalteten Medium.

Kulturtechnik des Bastelns

Stattdessen wünsche ich mir, neben der Vermittlung informatischer Grundlagen, Workshops, die Schülern nahebringen, wie man mit einem billigen Router und einer Handvoll Netzwerkkabel einfach sein eigenes Mini-Internet aufbauen kann, wie man einen eigenen Webserver aufsetzt, wie man HTML schreibt, wie man ein Wiki, einen Blog oder ein Forum einrichtet und moderiert, was die Nachteile und Risiken von “Web 2.0”-Fertigangeboten sind. Das sind Basiskenntnisse und Kulturtechniken, die heute nicht einmal Bachelorabsolventen von Mediengestaltungs-Studiengängen mitbringen.

26 Kommentare zu “Basteln ist die beste Bildung

  1. vielen, vielen Dank für diesen absolut einmaligen Beitrag, soetwas abgefahrenes in Sachen Computer-Sozialisation habe ich schon lange (noch nie?) gelesen!!! Aber so ist das wohl mit der Computer-Kultur… sie hat immer wieder diese unerhörten Geschichten in petto : )

  2. Ich selbst bin kein Bastler, aber ich habe großen Respekt vor Leuten, die so veranlagt sind. Ohne Bastler wären wir nicht nur ärmer an Geschichten, sondern an der ganzen lebenswichtigen Kultur der Improvisation, Selbstorganisation, etc.

  3. Schade, dass das Basteln aufhört, sobald man den Kindergarten verlässt. Ich selbst habe als Kind unglaublich gerne gebastelt – häufig war der Prozess des Bastelns dabei wichtiger, als das eigentliche Ergebnis (mit den Puppenhäusern, Ritterburgen, Miniatur-Vergngügungsparks etc. haben dann andere gespielt). Ich habe das Gefühl, dass das Spielen als anerkannte Selbstlernmethode irgendwie ein bisschen weiter ist, als das Basteln, oder?

  4. merkwürdig, ich bin auch kein Bastler und frage mich: wie wird man einer? bzw. wie/wodurch wurde das bei mir verhindert?

  5. Danke Florian fuer den wunderbaren Backgroundartikel zu katholischer Jugend, Sinclair und deterministischen Maschinen. Interneterziehung klingt dermassen scheisse, es erinnert mich an die südkoreanischen Schulklassen (Volksschule/Primarschule 1. Klasse) die am morgen jeweils das Netiquettelied singen (“a wahnsinn” wie wir in oesiland sagen wuerden). Ich hab die Netiquette immer gehasst, und das zu recht. Hier der Link zur Doku von Douglas Rushkoff (PBS/Digital Nation – http://to.pbs.org/c3v07x ), da gibts das Segment mit den Netiquette-Kindern, das ist sehr empfehlenswert! Ansonsten steht und faellt der Informatikunterricht mit den Lehrern. Ich habe 1987 Basic unterricht bekommen und es war sinnlos.. Hab nicht mal die basics begriffen, obwohl ich damals theoretisch verstanden hab das der Computer das Medium der Zukunft ist, aber die Vermittlung war dermassen schlecht (Abschreiben von Basicprogrammen von Papier und dann ausfuehren). Grtz,, hans-

  6. da möchte ich gleich noch eien Frage anschlißen: Wenn das Autodidaktsein, das Basteln und selbermachen so gefeiert wird, unterstützt man damit nicht auch ein bisschren den Autismus der kommenden Generationen? kann man auch in der Gruppe Erfahrungen machen, die den hier beschriebenen gleichwertig wären?

  7. Ficken ist die beste Bildung oder auch Einbildung ist die beste B. usw. “Bildungs Building” nennen das die Soziologen. Der Widerspruch der europaeischen Bildungsinstitutionen, in Rotterdam oder anderswo, ist ja eher, dass sie aufgestellt sind, Eliten zu bilden/auszubilden, die sich von den Flash-Idioten absetzen sollen und muessen — im Zweifelsfall auch von der Elite der USA oder jetzt ganz frisch Griechenland — und ihre blosz inhaltliche Kritik der Bricolage eine konstruktiv konstruktivistische ist. Ausfuehrlicher aber nicht weniger polemisch siehe “DIY — Rezept fuer 1-15 Personen” hier: http://www.n0name.de/news/news129.txt

  8. Warum den Anarcho-Spirit der Jugend nicht weiterleben an der Universität und dort Alternativen aufbauen zu AGNES & Co.? Ich beziehe mich auf die Passage:

    “Ich empfinde selbst Wikis, Content Management-Systeme und jede Form des Schreibens in Browser-Formularfeldern als Vorstufen dieser Hölle. Nichts desto trotz, und unter Abwägung aller Vor- und Nachteile, spielt sich ein relevanter Teil des Studienprogramms, das ich heute leite, auf einem Wiki ab.”

    Ansonsten möchte ich mich anschließen: großartiger Beitrag!

  9. Auf diese Jugend bin ich schlichtweg neidisch! Und was Du über Internet-Erziehung sagst, kann ich absolut nachvollziehen!

  10. Da kann ich nur die Hand reichen, einen Großteil der beschriebenen Abenteuer zwischen ZX 81 und programmierbarem taschenrechner habe ich auch so durchlebt, inklusive Basic- und Pascalunterricht! Ging bei mir natürlich nicht gut und endete seinerzeit in totaler Enttäuschung, da Computer nur ein Promill dessen wirklich vollbringen konnten, was meine Fantasie ihnen zuschrieb. Also setzte ich 20 Jahre aus und bestieg die digitale Welt aktiv erst wieder, als die Zeit und vor allem die Rechner, mich endlich eingeholt hatten..

  11. ich bin selbst studentin und finde die digitalen lernumgebungen sehr gut. in der schule hatten wir informatik-unterricht – das hatte komischerweise nichts mit dem internet zu tun, sondern wir haben so schaltkreise gebaut. jedenfalls fände ich es eigentlich gut, wenn es ein schulfach internet gäbe. dann könnten die schüler auch aus einer anderen perspektive lernen, was man damit alles anstellen kann.

  12. Zum “Informatik”-Unterricht: Hier wünsche ich mir zweierlei: Ich halte es für wichtig, grundlegend zu vermitteln, was Programmieren ist. Es wird sicher nicht gelingen, jeden Schüler zum Programmierer werden zu lassen, ein Grundverständnis dessen aber, was ein Computerprogramm ist und wie es aussieht, hilft sicher auch beim Verständnis von “Welt”. Dabei halte ich mittlerweile Javascript für eine gute Entscheidung, da diese Sprache allein durch den Browser auf jedem Rechner vorhanden ist und sich sehr kreative und gern auch subversive Dinge, wie das Umgestalten und Erweitern von Webseiten damit erledigen lassen. Hier kann schon mit zehn Zeilen Code mehr Realitätsnähe erreicht werden, als mit einem Jahr quälendem Turbo-Pascal oder Java im drögen Unterricht.

    “Interneterziehung” halte ich auch für den falschen Ansatz. “Informatik” klingt leider abschreckend und betont ja auch die mathematische Komponente sehr stark. Vielleicht lässt es sich ja doch in ein weicheres Fach “Medienkompetenz” überführen, dass ein spannendes Konglomerat aus Medientheorie und -praxis bietet.

  13. Interessant ist sicher auch was der oben genannte Herr Rushkoff in ganz ähnlich unterstützenswertem Tenor vor 10 Jahren forderte: dass es nicht genügt, nur gemachte Modelle bedienen zu können. Auch wenn das damals noch viele lokal installierte Programme waren, verliert der Text aufgrund seines Modell- und Simulationsbegriffs auch im Web 2.0 kaum an Bedeutung: http://www.heise.de/tp/r4/artikel/8/8499/1.html

  14. Es stimmt auch wirklich, dass zum Beispiel Kinder durch Basteln lernen. Für Kinder ist das Basteln eine Art Spielen und durch das Spielen lernen sie. Mit der Schere erlernen sie zum Beispiel Fingerfertigkeiten.

  15. Toll, wie sich der Computer in den Jahren so weiterentwickelt hat… Vor allem sind die typsischen Folientastaturen und der Kassettenspeicher sehr kultig!

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