Ausgrabungsstaette Kino

Mit fuenf oder sechs Jahren bin ich zum ersten Mal in meinem Leben ins Kino gegangen. Es lief ein Film aus der Winnetou- Reihe, ich kann mich nicht erinnern, welcher. Mein Bruder nahm mich an die Hand und wir stellten uns in die lange Schlange vor dem Capitol-Kino in Pritzwalk an. Alles war ungeheuer aufregend und neu fuer mich. Wir setzten uns in die Mitte des Saals und als der Film dann losging war ich ueberwaeltigt von den wunderschoenen Landschaften, den fremd aussehenden Menschen und der fesselnden Musik. Das war ein Erlebnis!

Wenn ich heute ins Cinemaxx, ins Cubix oder in die Kulturbrauerei gehe, dann ueberwaeltigt mich meistens nur noch die unertraeglich grosse Lautstaerke. Sie hat mittlerweile die Schmerzgrenze erreicht, ein Trick der Hollywood-Produzenten, um das Publikum koerperlich zu fesseln. Ja, der Kino-Besuch ist heute ein durchkalkuliertes und durchstrukturiertes Entertainment-Event: Anstehen, teure Karten, Popcorn und Cola, zweieinhalb Stunden Blockbuster, McDonalds und zum Schluss die Frage: Welchen Film habe ich da eigentlich gerade gesehen?

Es gibt natuerlich auch Ausnahmen jenseits des Multiplex- Einheitsbreis und nach denen braucht man in einer Kino-Stadt wie Berlin nicht lange zu suchen. Ein besonderes unter den besonderen Kinos ist zweifelsohne das Filmkunsthaus Babylon am Rosa Luxemburg- Platz. Es wurde bereits 1929 eroeffnet, in einer Zeit, in der man die Kinos noch Lichtspieltheater nannte. Seitdem hat das Babylon viel erlebt.

Zwei Jahre nach der feierlichen Eroeffnung wurde das Kino zum Ort des Verbrechens. Denn auf dem Buelow-Platz, direkt vor dem Babylon, erschossen mutmassliche KPD- Mitglieder einen Polizisten. Einer der Schuetzen war der spaetere Minister fuer Staatssicherheit der DDR, Erich Mielke. Waehrend der NS-Diktatur hat der Filmvorfuehrer Rudolf Lunau eine illegale Widerstandsgruppe der KPD im Babylon untergebracht haben – daran erinnert eine Gedenktafel im Foyer des Kinos.

Nach der Teilung Deutschlands wurde das Babylon dann zum Premierenkino fuer sowjetische Filme und DEFA-Produktionen. In der Intellektuellen-Szene der DDR spielte das Kino eine grosse Rolle, da hier auch auslaendische Filme gezeigt wurden und kritische Gespraeche stattfanden, wenn auch sehr eingeschraenkt. 1989 kam die Wende. Dem Babylon drohte das Aus, haette sich nicht ein Verein gegruendet, dem es gelang das Kino zu retten. Heute ist es ein wichtiges Berliner Programmkino, das es dem Publikum ermoeglicht, Filme jenseits des Hollywood-Mainstreams zu sehen.

>Wir machen ein Kino in unserer Hauptstadt<, versichert mir Bernd Buder, der Programmleiter des Filmkunsthauses, als ich ihn danach frage, inwiefern sich das Kino mit seiner DDR-Geschichte identifiziert. Es ist natuerlich nicht moeglich und gar nicht erwuenscht, sich von der Vergangenheit zu distanzieren. Die Vereinsstatuten besagen immerhin, dass DEFA- Filme und auch Filme aus Ost- und Suedosteuropa zum Programm des Kinos gehoeren sollten. Wenn man einen Blick auf das Programm des Kinos wirft, wird man schnell feststellen, dass dies keine Doktrin ist. Im Dezember zeigte das Babylon beispielsweise die Reihe >Kabul/Teheran 1979 FF< in Zusammenarbeit mit der Volksbuehne. Filmklassiker wie >Citizen Kane<, >Blow up< oder >Fahrstuhl zum Schafott< kommen beim Publikum immer wieder gut an. Andererseits gibt es auch Ueberraschungserfolge wie zum Beispiel der deutsche Film >Dunkler Lippenstift macht serioeser< [BRD, 2003], bei dem jede Vorstellung ausverkauft war. Ja, nicht selten stroemt das Publikum ins Babylon in grossen Zahlen, auch wenn man sich manchmal fragen muss, wie es sich dort hinverirrt hat. Eine Standortfrage, denn die Lage des Kinos innerhalb Berlin-Mittes erscheint auf den ersten Blick ein wenig obskur. Die Rosa Luxemburg-Strasse ist keine Flaniermeile, sondern eher eine Durchfahrtsstrasse. Es ist, als wuerde man sich irgendwo am Rande der Hauptstadt befinden. Hier steht das Babylon neben der Galerie Christian Nagel, zwei Sex-Shops, dem Literaturcafe EggersLandwehr, der Volksbuehne und Kneipen: Eigentlich ein ueberaus attraktiver Mix von Kulturangeboten. Kurz, in dieser Nachbarschaft kann man einen aussergewoehnlichen Abend verbringen, denn die peripher anmutende Gegend ist weder so touristenueberfuellt wie die Hackeschen Hoefe, noch ist die Atmosphaere hier so aufdringlich, wie es bei den Multiplexen der Fall ist. Kinoerlebnisse wie in meiner Kindheit werde ich wohl nie wieder haben. Doch das Babylon laesst hoffen: Hier hat Kino noch etwas mit einem Ort zu tun, seiner Geschichte und seinen gegenwaertigen Widerspruechen. Und letzten Endes ist dieser Ort vielleicht genauso einzigartig, wie es das Capitol einmal fuer mich war.

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