Aus Land wird Meer wird Land

Zugegeben, es bereitet mir durchaus grosses Vergnuegen, an einem schwuelen Tag oder nach einem heissen Sonnenbad am Strand in die kuehlenden Fluten eines Badesees oder des Meeres zu springen und mich danach ein paar Minuten von den Wellen des Wassers tragen zu lassen. Das war’s dann aber auch schon meist mit dem Erlebnismedium >Wasser<. Stundenlang im Wasser zu treiben oder darin herum zu planschen, ist meine Sache nicht.

Schon als Kind war das Wasser nicht mein liebstes Metier, weder im Sport noch in der Freizeit. Sobald seine kuehlende Frische meinen Koerper durchdrungen hat, sucht derselbe [oder ist es nicht doch vielmehr der Geist] schnell wieder das Weite. Geist und/oder Koerper draengen ans Land, sie wollen, so scheint es, wieder festen Grund und Boden unter den Fuessen haben.

Evolutionsbiologisch ist das, trotz einer Vielzahl anders lautender Stimmen, eine ebenso verstaendliche wie leicht nachvollziehbare Reaktion. Auch wenn wir dem Wasser entstammen und unser Koerper zu mehr als zwei Drittel aus Fluessigem besteht, haben wir doch, aus welchem Grund auch immer, irgendwann das Wasser verlassen und haben uns das Land als die uns gemaesse Umwelt gesucht. Wasser, so stellen wir immer wieder fest, hat augenscheinlich etwas Bedrohliches fuer uns. Wir haben das Land als die uns gemaesse oder als zur uns passenden Umwelt erkoren, wir sind >Landtreter< geworden, weil wir nach einem festen Standpunkt, nach Festland sozusagen suchen und wir uns in aller Regel nur ungern auf das Schwankende, Ungewisse und Fliessende einlassen. Das heisst umgekehrt natuerlich nicht, dass es nicht auch Zeitgenossen gibt oder gegeben hat, die gerade diese Herausforderung, die das Wasser oder die unendlichen Weiten des Meeres an uns stellen, suchen oder gesucht haben, Menschen, die den alltaeglichen Kreislauf, den die Sonne jeden Tag vollzieht, durchbrechen wollen. Zumal der Mensch auch die Kraft, die Freiheit und den Willen in sich spuert, in neue, unendliche Raeume aufzubrechen und Natur und Dasein durch die eigene Tat geschichtlich zu erobern und zu veraendern. Neben diversen Entdeckern und Abenteurern wie Weltumseglern, Piraten oder Walfaengern waren das, historisch betrachtet, meist Voelker, deren Land von Wasser umspuelt war und die sich von ihm quasi eingesperrt gefuehlt haben. Und da sie auf dem Land, auf dem sie lebten, nur wenig Rohstoffe, Bodenschaetze oder Ressourcen vorfanden, um ihre Lebenslagen zu verbessern, mussten sie dem Handel den Vorrang vor dem produzierenden Gewerbe geben und ihr Heil im Maritimen suchen. Darum kam es nicht nur zu jener weltgeschichtlichen Auseinandersetzung von Seemaechten gegen Landmaechte und umgekehrt, die Griechen gegen die Perser, die Roemer gegen die Punier, die Russen gegen die Englaender und/oder Amerikaner. Auf diese Weise haben sich diese Voelker nach und nach auch riesige Reiche geschaffen. Es war der deutsche Geograf und Spaethegelianer Ernst Kapp, der in seiner >Vergleichenden Allgemeinen Erdkunde< von 1845, der Raum- und Kulturentwicklung, und damit auch die Abfolge solcher Grossreiche, vom Wasser her bestimmt hat. Ihm zufolge beginnt die Weltgeschichte mit der >potamischen< Flusskultur des Orients im Zweistromland und am Nil. Auf dieser Stufe wird das Wasser noch sehr eingeengt wahrgenommen. Da es ausschliesslich landwirtschaftlich genutzt wird, bleiben die Menschen mit dem Land auch weiter sehr verbunden. Der Mensch ist, hegelianisch gesprochen, noch ganz bei sich und der Despotie und den Launen eines gottaehnlichen Herrschers unterworfen. Dem >potamischen Zeitalter< folgt, als Zwischenstufe quasi, die >thalassische< Kultur der Binnenmeere und Meeresbecken. >La Plus Grande Mediterranee<, wie es bei Fernand Braudel spaeter heissen wird, wird zum Lebensraum und Operationsfeld diverser Voelker und Staemme, insbesondere von Griechen und Roemern. Obzwar der sich entwickelnde Handel neue Fortschritte auf dem Gebiet der Schrift, im Flottenbau und der Kommunikation schafft, stellt das Mittelmeer trotz seiner Groesse einen in sich abgegrenzten Raum dar. Insofern bleibt das Freiheitsbewusstsein, wieder hegelianisch gedacht, im Fuersichsein befangen. Waehrend sich Griechen und Roemer als Freie bestimmen, bleiben alle anderen fuer sie Barbaren oder Heiden. Erst mit der Umsegelung der Erde und der Entdeckung Amerikas durch Kolumbus wird das letzte und zugleich hoechste Stadium der Kulturbildung erreicht, die >ozeanische Kultur<. Erst jetzt, im kolumbianischen Zeitalter, tritt das gesamte Weltmeer ins Blickfeld, der Horizont weitet sich und der Raum wird unendlich gross. Weltgeschichte und Freiheitsbewusstsein kommen laut Kapp an ihr Ende. Der Geist hat den Mount Everest erklommen, er ist nun an und fuer sich. Allerdings bleibt Kapps Blick ethnozentrisch begrenzt. Das Ozeanische schart sich bei ihm ausschliesslich um den Atlantik, jenem Teilmeer also, das von Amerika und Europa umsaeumt wird und von Geopolitikern spaeter als blosse Extension des Mittelmeers angesehen wurde. Sowohl der nach Sueden hin immer weiter sich oeffnende Pazifik als auch der Indische Ozean blieben peripher, und mit ihnen auch andere Grossreiche wie das mongolische, das arabische oder das der sued- und mittelamerikanischen Indianer. In der Neuzeit sind die Angelsachsen, und nicht wie von Kapp vorhergesagt die germanischen Voelker, Erbe und Traeger des Ozeanischen gewesen. Sie waren es, die die maritimen Energien entfesselten und den Globus in eine riesige Insel verwandelten. Weil sie mehr in Stuetzpunkten und Verkehrslinien dachten als erd- und heimatverbunden und folglich Meer, Handel und Weltmarkt mit der Vorstellung von Freiheit verbanden, machte sie das Jahrhunderte lang all jenen Voelkern ueberlegen, die wegen ihrer geografischen Topografie mehr unter verengten Horizonten litten und demzufolge fragmentiertere Lebensbedingungen entwickeln mussten. Ungluecklicherweise lagern die Rohstoffe, auf die sich die begehrlichen Blicke der Haendler, Freibeuter und Welteroberer richten, weniger im oder am Grund des Meeres als vielmehr auf dem Festland. Die Gegend, die den groessten materiellen Reichtum der Erde beherbergt, ist seit Sir Halford Mackinders Studien, die eurasische Landmasse. Fuer den britischen politischen Geografen avanciert sie deshalb zum >Pivot< [Kernland]. Sie ist potentielles Macht- und Gravitationszentrum der Erde. Wer sie sein eigen nennen kann, besitzt die Macht ueber den Globus. Geografisch nimmt Russland seit langer Zeit hier die zentrale strategische Position ein. Sie ist die dominierende Landmacht. Noch! Denn im letzten Paragraf seiner Abhandlung malte Mackinder das Gespenst einer Eroberung des Pivots durch China an die Wand. Dadurch wuerde auf einmal China zur dominierenden Landmacht und alle US-amerikanische Ausrichtung auf Afghanistan und den Irak sowie der Streit Amerikas um die Vorherrschaft in Zentralasien und im Kaukasus mit Russland, die Mackinders Behauptungen gestuetzt haben, wuerden hinfaellig und muessten neu justiert werden. Und sie muessten wohl auch neu justiert werden, wenn es zu einer Allianz zwischen Europa und Russland oder China und Russland kaeme. In der >Shanghaier Organisation fuer Zusammenarbeit< ist letztere schon vor- oder angedacht. Schon deswegen duerfte kuenftig auch der Indische Ozean, nachdem der Atlantik und der Pazifik befriedet sind, das Hauptschlachtfeld der geopolitischen Streitigkeiten in diesem Jahrhundert sein. Auch weil dort neunzig Prozent des Welthandels und zwei Drittel des Energietransports abgewickelt werden und sowohl China als auch Indien ihre Seemacht exorbitant ausbauen, um ihre Handelsflotten zu schuetzen. Dem aufmerksamen Beobachter duerften die historischen und geopolitischen Kontinuitaeten foermlich in den Schoss fallen. Urploetzlich sieht man die beiden Weltkriege und den Kalten Krieg wieder vor sich auftauchen, man sieht die Kriege in Korea und in Vietnam vor sich, den Afghanistankrieg von 1979, den Einmarsch der Sowjettruppen in Kabul und massive Unterstuetzung der Mujaheddin durch den amerikanischen Geheimdienst, oder den >War on Terror<. Und man erkennt sofort auch die geostrategische Rolle, die die EU-Osterweiterung und die Integration der Tuerkei, der geopolitische Pluralismus in den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion und die Fortsetzung der Stuetzpunktpolitik in Arabien, in Zentralasien und Fernost fuer die Seemacht und >groessere Insel< Amerika spielt. Wasser ist folglich nicht nur Beiwerk oder Erfrischungsgetraenk, Belebungs- oder Lebenselement im Wassermannzeitalter, es ist auch und zuallererst Waffe und Instrument und damit Raum veraendernde Macht. Auf die blutigen Landnahmen folgten ebenso blutige Seenahmen, die stets eine Neuaufteilung und Neuvermessung der Erde einleiteten. Laut Sir Thayer Mahan waren und sind es immer die Seemaechte gewesen, die die entscheidende Rolle im globalen politischen Kampf gespielt haben. Der eigentliche Kampf um Anerkennung, um Freiheit und mehr Menschlichkeit, ist folglich nicht bloss einer, der mit und um universalistische Ideen gefuehrt wird, sondern hauptsaechlich und in erster Linie ueber die Kontrolle von Land, und da besonders und vor allem um das >Herzland< [Pivot] und die Kuestengebiete [Rimland] Eurasiens. Das Wasser bzw. das Meer ist Mittel [Medium] zum Zweck.

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