Aufloesung von Beziehungen

Ich stand zum ersten Mal als kleiner Junge, ich war vielleicht vier oder fuenf Jahre alt, bei Verwandten vor einem kleinen Zimmeraquarium. Ich weiss noch oder stelle es mir jetzt so vor, dass ich sofort die Frage hatte, was wohl die Fische von der Welt ausserhalb des Aquariums wahrnehmen. Wenn wir so schoen hineinschauen koennen, koennen die Fische dann auch genauso gut herausschauen? Ich musste auf den Film >Findet Nemo< warten, um eine Antwort auf diese Frage zu erhalten.

Die Frage, welche Bedeutung das Aquarium fuer mich als Soziologe hat, habe ich mir noch nie gestellt. Ich koennte sie so abstrakt auch nicht beantworten. Ich muesste mir die soziale Situation anschauen, in die ein Aquarium in einem bestimmten Haushalt eingebettet ist. Und ich wuerde vermutlich erst einmal mit der Hypothese arbeiten, dass die Menschen im Aquarium die fremde und in sich geschlossene Welt, aber auch die minimale Varianz einer dennoch dauernd in Bewegung befindlichen Welt zu schaetzen wissen, eben das, was oft als >beruhigend< geschildert wird, ohne doch je wirklich >langweilig< zu werden. Es ist ein Topos der Kulturgeschichte, der auf den ersten Blick schraeg steht zu unserer heutigen Erfahrungswirklichkeit, dass das Meer verbindet, waehrend das Land trennt. Das erklaert sich daraus, dass das Land jahrhundertelang eher unwegsam war, waehrend das Meer, vor allem solange man sich an den Kuesten entlang bewegt, relativ sichere Verbindungen bereitstellt. Heute verbindet man ja eher das Land und die Luft mit der Vorstellung sicheren Reisens und assoziiert das Meer mit gefaehrlichen Wellen und Stuermen, von den Haien zu schweigen. Traditionell jedenfalls steht das Meer fuer das Verbindende und daher >Konnektionistische<. Das Fluide duerfte sich von selbst erklaeren. Zusammen genommen wird daraus eine Metapher, die in der Tat ins Zentrum des Interesses der Soziologie fuehrt, weil sich die Soziologie immer schon fuer die Typik von Beziehungen interessiert hat, die man sowohl knuepfen als auch entwickeln und veraendern und nicht zuletzt auch wieder aufloesen kann. Georg Simmel war in der Beschreibung dieser Art von Beziehungen vielleicht der virtuoseste aller Soziologen. Man kann sogar sagen, dass der Grundbegriff des "Sozialen" genau hierin seine Pointe hat, darin naemlich, Beziehungen zu beschreiben, die schon in dem Moment, in dem man sie knuepft, die Moeglichkeit ihrer Wiederaufloesbarkeit enthalten, man denke an ein Gespraech, eine Freundschaft, ein Geschaeft, eine Ehe, eine politische Initiative, ein wissenschaftliches Experiment [als soziale Beziehung mit, wie wir glauben, nicht-sozialen Dingen]. Die Beziehung als wieder aufloesbar zu denken, fuehrt dann nicht etwa zu einer Kritik der Gesellschaft, die keine >Stabilitaet< erlaubt, sondern ganz im Gegenteil zu der Einsicht, dass die dynamische Stabilitaet der Gesellschaft genau darin besteht, nach der Aufloesung einer Beziehung nicht etwa gar keine Beziehung mehr, sondern eine andere Beziehung zu ermoeglichen. Wenn man sich, um nur ein Beispiel zu nennen, nicht mehr am Bauernhof des Vaters, sondern am Arbeitsmarkt orientiert, sobald man an die eigene Zukunft denkt, werden durch das Geld zwar die traditionellen Beziehungen zu Hof und Familie aufgeloest, dafuer entstehen jedoch neue Beziehungen innerhalb neuer beruflicher Umfelder und nicht zuletzt auch neue, eher auf Intimitaet und Vertrauen als auf Erbe und Nachfolge abstellende Beziehungen zur Familie. In Zeiten zunehmender Informationsfluten und steigender Meeresspiegel ist die Metaphorik so aktuell wie eh und je, und dies auch dann, wenn das Meer, der Ozean mittlerweile eher zu Elementen einer anderen, eher auf die Oekologie der Erde verweisenden Metaphorik werden. Aber um aufloesbare Beziehungen geht es immer noch. Denn wie sagt der Kellner eines italienischen Restaurants, wenn man ihn fragt, was der Koch heute empfiehlt: >Ein anderes Restaurant<. Welche Antwort waere klueger als diese? Und welche koennte verlaesslicher dafuer sorgen, dass man dann doch im einmal gewaehlten Restaurant sitzen bleibt?

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