Arrièregarde statt Avantgarde

Über Musik zu schreiben ist hoffnungslos. Nur: Wir haben nichts besseres. Abgesehen von Musik über Musik. Umso wichtiger ist es, dass mit neuen Formen des Schreibens über Musik experimentiert wird.

In der aktuellen Ausgabe der legendären Musikzeitschrift Spex ist zum zweiten Mal das so genannte Pop Briefing erschienen – ein laut Redaktion “radikaler Schritt” hin zu einem “Neustart der Musikkritik”: Anstatt von nur einem Autor werden hier Alben von mehreren und im Dialog besprochen. Klingt nach einer Polyphonie der Meinungen à la Internet.

Vielfalt vs. Qualität

Doch stimmt diese Gleichung überhaupt: höhere Autorenanzahl = höhere Meinungsdiversivität? Und: Brauche ich überhaupt eine Kaufberatung und einen umfassenden Testbericht, wenn es um Pop geht?

Mir ist eine begründete Meinung über ein Popdings, von dem ich möglicherweise schon anderes gehört habe, wichtig. Wenn es um Pop geht, muss ich nicht sorgsam an die Hand genommen werden.

Um Meinungsvielfalt abzubilden, ist das “Pop Briefing” von Spex daher nicht unbedingt nötig. Wenn das “Pop Briefing” aber zum Katalysator für eine Ablehnung des ganzen Scheiß wird, wäre das in meinen Augen ein Erfolg.

Gedruckte Popkritik ist wie ein Album

Was bleibt in diesen Zeiten des Umbruchs? Gedruckte Popkritik und das Format des Albums gehören zusammen. Es geht in beiden Fällen um Bündelung und Rückschau, weniger um die Anfänge eines Trends.

Gedruckte Musikkritik informiert immer weniger über das Neue und Heiße, sondern über das, was durchgehalten hat. Entsprechend erscheint ein Album häufig “in der hinteren Hälfte” eines Hypes (dem Internet sei Dank).

Das Gute daran: So wie auf einem Album die Hits die experimentellen Tracks rechtfertigen, so kann eine laufende Diskussion um ein Stück Pop eine gute Basis für experimentellere Meinungen sein. Ist das Grundsätzliche geklärt, erscheint das ausgeschlossene Dritte willkommener.

Vielleicht braucht es also weniger ein internet-simulierendes “Pop Briefing”, als viel mehr Geduld und Rückschau. Gedruckte Musikkritik könnte Arrièregarde statt Avantgarde sein.

9 Kommentare zu “Arrièregarde statt Avantgarde

  1. gutes Thema! Musik, Zeit, Aktualität, Vielfalt, Qualität- diese und andere Stichworte triggern die Gedankenmaschine.

  2. mit interesse beim morgenespresso gelesen, kommentar später, wenn mir was gutes eingefallen ist

  3. Häufig wird vergessen, dass das Netz nicht nur das dolle Echtzeitmedium ist, sondern eben auch der “Ort”, an dem verschiedene Zeitebenen wunderbar und für alle einsehbar koexistieren. “Zu spät” gibt es im Netz in diesem Sinne nicht — ausser man hat den Kopf im Sand von irgendeinem Hype.

  4. Beim ersten Lesen hat mir das “Pop Briefing”-Format ganz gut gefallen, aber echte Diskussionen oder Debatten sehen anders aus. In den Briefings, die ich gelesen habe, hat jeder Beteiligte jeweils drei Absätze geliefert, die alle so periphär miteinander verbunden waren, und das wars. Hmm. Vielleicht eignet sich das Format eher zur Auf- und Nachbereitung, wenn Alben schon eine Weile zirkulieren?

  5. @Salvy: Aber das “Pop Briefing”-Format versteht sich doch genau als das: Auf- und Nachbereitung von Alben, die die Musikpresse nicht exklusiv neu präsentieren kann, weil die Welt sie längst via Download kennt. Oder habe ich das Format falsch verstanden? Frage auch, weil ich es noch nie las.
    @krim: Asynchrone Kommunikation rules!

  6. @Leon: Nein, so wie ich das sehe, werden, nach klassischer Rezensionspraxis, Alben, die bald erscheinen werden oder vor kurzem erschienen sind, besprochen. Würde das Heft noch klasssische Reviews präsentieren, würden die auch nicht zeitnaher sein.

  7. Lieber Fabian,

    zufällig klickte ich auf Deinen Namen unter dem anregenden Text und landete unerwartet auf Deiner charmanten Profilseite. Bist Du wirklich Benzinverkäufer in Nachtschicht? Und: ist das so Tarantino-mässig, dass Du in den vielen freien Minuten bei Deiner Arbeit auf der Tankstelle das ganze “Popdingens” in Dich aufsaugst?

    Liebe Grüße,

    Arnie

  8. @krim: man könnte das netz so nutzen, ja. ich sehe aber schon auch, dass es sich schwer tut mit altem. schau dir zb die timeline-struktur so ziemlich aller sozialer netzwerke (twitter, facebook, buzz) an. da hilft kein konservieren, sondern nur wiederholen.

    @Salvy, @Leon: witzig, dass ihr das pop-briefing als möglichkeit nachbereitung seht. mir erschien es primär als pseudo-schnelle web2.0-simulation. aber sicher: das format bietet viele möglichkeiten. deswegen wäre es auch albern es grundsätzlich zu verteufeln.

    @Arnie: es ist wahr, aber wie so oft weniger romantisch als man denkt. außerdem darf ich ja glücklicherweise auch anderes machen um popdinge zu geniessen.

  9. bin für das wieder ausgraben des begriffes “arrièregarde” sehr dankbar! sante!

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