Die Macht des anonymen Widerstands

Macht und Gegenmacht – der ewige Kampf findet längst auch im digitalen Raum statt. Dabei spielt Anonymität eine wichtige Rolle. Denn sie verschiebt das Machtgefüge und ermöglicht, über Ungerechtigkeit zu sprechen, ohne einen Vergeltungsschlag fürchten zu müssen. Internetaktivist und IT-Experte Jacob Appelbaum setzt in seinem Essay den Widerstand des 20. Jahrhunderts und den Widerstand der Gegenwart in einen Zusammenhang – für ein besseres Verständnis der Zukunft.

*

Ich entschuldige mich vorab schon für die sehr US-zentrierte Geschichte, die hier folgt. Sie ist ein obskurer, aber sehr wichtiger Teil der USA und wird denjenigen, die in Ostdeutschland gelebt haben, bekannt vorkommen. Ich erzähle diese Geschichte wegen ihres Bezugs zur Gegenwart. Ich denke, sie entscheidet darüber, wie wir die Zukunft verändern.

Von 1956 bis 1971 gab es beim FBI eine Reihe von Spionageabwehr-Programmen, die unter dem Sammelbegriff COINTELPRO (von engl. Counter Intelligence Program) bekannt wurden. Die Anarchisten der frühen 1920er Jahre, wie Emma Goldman, haben unter ähnlichen Maßnahmen gelitten, aber unter einer ganz anderen legalen und häufig auch illegalen Autorität. COINTELPRO war anders. Es war von Präsident Truman und dem FBI-Direktor J. Edgar Hoover autorisiert und sollte gegen die angebliche Bedrohung durch den Kommunismus kämpfen – unter dem Deckmantel kompletter Geheimhaltung. So begann die McCarthy-Ära, eine große Schande für mein Land, zahllose Leben wurden unter dem Banner des patriotischen Nationalismus zerstört.

Geheimhaltung und das erste Leck

Der erste COINTELPRO-Einsatz war gegen die Kommunistische Partei der USA, mit den Jahren wurde COINTELPRO immer weitgreifender, wie alle sogenannten Exekutivorgane, bis es fast jede Protestgruppe gegen den Vietnamkrieg, Zivilrechtler und sogar ein paar “weiße” Bewegungen einschloss. Das FBI schreckte nicht vor Erpressung und Gewaltanwendung zurück, Ehen wurden zerstört und Angestellte der Telefonvermittlungen rekrutiert, um Telefone abzuhören, das FBI selbst brach in Häuser ein, um Wanzen zu installieren etc. Einige dieser Aktivitäten führten sogar zum Tod komplett unschuldiger Leute.

Doch während nahezu der gesamten Laufzeit von COINTELPRO wusste kaum jemand in den USA von dessen Existenz, ihre Opfer wurden meist als verrückt abgetan. Der Begriff COINTELPRO war nur denen bekannt, die mit der Durchführung von Operationen betraut waren oder denjenigen, die sie autorisiert hatten.

Im März 1971 veränderte eine groß angelegte, gewaltfreie Aktion die USA für immer. Eine illegale Handlung deckte gewaltige illegale Aktivitäten auf. Eine Gruppe mit dem Namen “Bürgerliche Kommission zur Untersuchung des FBI” brach in die FBI-Büros in Media, Pennsylvania, ein. Sie entwendeten über eintausend klassifizierte Dokumente, die detaillierte Informationen über COINTELPRO-Aktivitäten enthielten. Die Gruppe spielte die Dokumente anonym der Presse zu und denjenigen, die vom FBI anvisiert wurden. Sie nutzte den beliebtesten Kommunikationsweg der damaligen Zeit: die Post. Zu Beginn wollte keine Zeitung und kein Verlag die Dokumente veröffentlichen. Im März 1972 kam WIN Magazin dann mit der Geschichte heraus.

Machtgefälle: Identifikation vs. Anonymität 

Das unwirklichste Beispiel eines Aktivisten unter FBI-Beschuss ist Martin Luther King Jr. In den 1960ern wollte das FBI ihn durch Erpressung in den Selbstmord treiben, nur 30 Tage bevor er den Friedensnobelpreis erhalten sollte. Martin Luther King Jr. weigerte sich, den Forderungen des FBI zu folgen, und das FBI musste sich geschlagen geben.

Langsam und mit sehr langfristiger, strategischer Denkweise gab die “Bürgerliche Kommission zur Untersuchung des FBI” die entwendeten Dokumente frei. Opfer erfuhren, dass sie im Visier des FBI standen und welcher Mittel das FBI sich bediente. Der große taktische Vorteil der Kommission war zweierlei – zum Einen lagen schriftliche Beweise aus den Händen der Unterdrücker vor, zum Anderen war die Gruppe anonym. Die Macht des FBI stützte sich auf Identifikation – ohne die Identitäten der Kommissionsmitglieder zu kennen, war es machtlos.

Das FBI konnte nicht verhindern, dass die Wahrheit ans Licht kam. Die Asymmetrie, die sich durch die Anonymität bot, war der Schlüssel zum Erfolg. Die anonyme Veröffentlichung der Dokumente sorgte dafür, dass es keinen Schauprozess oder weitere Verfolgung gab, die Drahtzieher beim FBI mussten schnell handeln. Das FBI stellte die COINTELPRO-Aktivitäten sofort ein. Die Veröffentlichung der Dokumente führte zur Gründung eines Komitees im Senat, das Regierungshandlungen untersucht und letztendlich zur Entstehung des US-amerikanischen Gesetzes zum Recht auf Information („Freedom of Information Act“) und sogar zur Entstehung spezieller Gerichte, die die zukünftigen Aktivitäten der Exekutive beobachten. Soweit möglich wurden die Opfer entschädigt und neue Gesetze auf den Weg gebracht, um die Bevölkerung vor ihrer Regierung zu schützen.

Nachhaltige Veränderungen…

Die Taktik der Kommission war wunderschön – sie haben anonym die Wahrheit verbreitet und der Bevölkerung die Falschheit des gut dokumentierten Rassismus der sogenannten Gesetzeshüter vor Augen geführt. Ihre Vorgehensweise führte zu massiven Veränderungen in der Arbeit der Exekutive in den USA. Bis heute hat noch niemand die Identitäten der „Bürgerlichen Kommission zur Untersuchung des FBI“ herausgefunden. Sie bleiben anonym.

Es kam zu keinem Schauprozess, wie er bei Julian Assange passieren könnte, und wie es jetzt bei dem angeklagten Leaker Bradly Manning der Fall ist. Anonymität verschiebt das Machtgefüge – es gibt die Macht über Ungerechtigkeit zu sprechen, ohne einen Vergeltungsschlag fürchten zu müssen. Auch in der „Bürgerlichen Kommission zur Untersuchung des FBI“ wird es viel Angst und Besorgnis gegeben haben. Nicht wegen der Falschheit ihrer Taten, sondern weil das FBI keine Mühen gescheut hat, Widerstand zu brechen. Die Mitglieder der Bürgerlichen Kommission waren zu Recht ängstlich, sie besaßen die Beweise dafür, dass das FBI gewillt war Morde zu begehen und Menschen in den Selbstmord zu treiben.

Die Geschichte des Widerstands ist stark und wir müssen die Vergangenheit und die Gegenwart in einen neuen Kontext setzen, um ein besseres Verständnis der Zukunft zu bekommen. Wenn wir von der Erfahrung über den Machtmissbrauch durch das FBI und die Reaktion der Bürgerlichen Kommission lernen, dann werden sich wichtige Parallelen auftun – in Bezug auf das Verhalten der Gesetzeshüter und die Reaktion, die dieses Verhalten hervor bringt.

…auf die Gegenwart übertragen

Wenn eine Gruppe in Aktion tritt und den Zutritt zu einem Gebäude verwehrt, dann tut sie das, weil sie versucht Machtflüsse zu stören und damit auch die Kontrolle zu brechen, die von dem Gebäude ausgeht. Das Critical Art Ensemble argumentierte in ihrer einflussreichen Arbeit “Elektronischer Ziviler Ungehorsam” aus dem Jahr 1990, dass die Machtflüsse jetzt elektronisch seien. Die Blockade von Gebäuden reiche nicht mehr aus. Nach dem Kampf um Seattle am Rande der WTO-Konferenz (1999) haben wir festgestellt, dass die Macht sowohl elektronisch als auch analog fließt.

Wenn Anonymous die Sicherheitsfirma HB Gary hackt und die Verbindungen zwischen Korporationen und der US-Regierung aufzeigt, wo diese die journalistische Arbeit von Glenn Greenwald in den Dreck ziehen wollen, andere bedrängen und auf Watchlisten setzen (so wie mich), dann können wir sehen, dass Anonymous eine ähnliche Funktion erfüllt wie die „Bürgerliche Kommission zur Untersuchung des FBI“. Weil Anonymous sich nicht in die Karten schauen lässt, lassen sie Angst entstehen bei denen, die ihre Macht missbrauchen. Das führt zu einer Destabilisierung von Machtstrukturen, die ihre Macht nicht aus dem Konsens der Regierten beziehen.

Anonymous ist nicht frei von Makel. Aber der Schwarm ist ein Fahnenträger, der dabei hilft einen gemeinsamen Nenner zu finden für jene, die genug haben. Genug von Überwachung. Genug von Zensur. Genug von den Lügen. Genug von den Kriegsverbrechen. Genug vom Zynismus. Keine Bewegung ist fehlerfrei, aber das Fehlen von Perfektion setzt nicht gleichzeitig die Wahrheit außer Kraft, die Anonymous ans Licht bringt oder die positiven Taten der Bewegung.

Genug ist genug!

Es gibt neue Pentagon-Papiere und eine neue Protestbewegung gegen den Vietnamkrieg. Es gibt auch eine neues COINTELPRO-Programm. Das ist deutlich geworden durch das Programm der Nationalen Sicherheitsagentur NSA, das ein Abhören ohne richterlichen Beschluss zulässt, durch Abschnitt 215 des US Patriot Act, der dem Staat mehr Rechte im Kampf gegen den Terrorismus zugesteht, und durch die Brutalität der Polizei gegenüber der Occupy-Bewegung. Ich selbst wurde stark bedrängt, ohne eine einzige Anklage oder Verhaftung. Genug ist genug!

Anonymous und andere Bewegungen, die sich durch ihre Aktion vereinen, sind die Bürgerliche Kommission von heute. Das FBI von heute ist der militärisch-industrielle Komplex und die Freunde der Privatisierung  – das FBI ist wieder mittendrin. HB Gary ist im Grunde nach COINTELPRO-Prinzipien gegen WikiLeaks und Anonymous vorgegangen. Wir können eine Parallele zu den damaligen Entwicklungen herstellen: die illegalen Tätigkeiten wurden aufgedeckt. Anonymous hackte HB Gary und ist damit in deren elektronisches Gebäude eingebrochen und hat die Unterlagen zum Wohle aller mitgenommen. Als sie die Akten veröffentlichten, gab es eine große Empörung über die illegalen Machenschaften von HB Gary und ihre Zusammenarbeit mit Regierungsagenturen.

Wenn wir analoge „Denial of Service“-Attacken auf Gebäude in Form von Sitzblockaden sehen, dann sollten wir wissen, dass diese Art von Aktionen den Weg frei gemacht haben für elektronische Sitzstreiks gegen den Strom der Macht und den Weg des Geldes unter der Kontrolle von PayPal. Als Anonymous gegen PayPal einen “Denial of Service”-Angriff durchführte als Protest gegen die Löschung von WikiLeaks-Accounts, dann geschieht das in der Tradition eines gewaltfreien Widerstands gegen Machtmissbrauch. Es wurde kein dauerhafter Schaden angerichtet, keine Server beschädigt, niemandem Pfefferspray in die Augen gesprüht. Trotzdem gibt es ein bleibendes Ergebnis, und das stößt die wichtige Debatte über die finanzielle Blockade von WikiLeaks an. Warum lassen wir das zu? Würden wir einer Bank gestatten, bestimmten Parteien den Dienst zu verweigern?

Widerstand gegen den Terror des Staates

Wir brauchen die Daniel Ellsbergs, Emma Goldmans, Julian Assanges, Rosa Luxemburgs und Peter Sundes – Menschen, die gewillt sind, ihre Standpunkte für eine bessere Welt öffentlich zu vertreten. Sie sind vor allem durch unsere Unterstützung wirkungsvoll und wichtig. Wir stehen hinter ihnen. Ihre Courage ist ansteckend und ihre Handlungen stehen im Einklang und in Solidarität mit unseren Handlungen. Wir stellen uns gemeinsam mit moralischer Autorität der Tyrannei, nicht als Mob, sondern in prinzipientreuer Solidarität.

Was wir jetzt mehr denn je brauchen, ist eine neue „Bürgerliche Kommission zur Untersuchung des FBI“. Es scheint, als bräuchte auch Deutschland eine „Bürgerliche Kommission zur Untersuchung des Verfassungsschutzes“. Es wird davon ausgegangen, dass der Verfassungsschutz mit den Rechtsterroristen der NSU kooperiert hat. Jemand muss die Iniitiative ergreifen gegen diejenigen im Staat, die es Kriminellen ermöglicht haben, Menschen umzubringen. Der Verfassungsschutz hat eine feste Hierarchie und Machtstruktur. Diese Leute haben einen Namen und müssen zur Rechenschaft gezogen werden. Sie besitzen Berichte und Unterlagen, diese Dokumente müssen an das Licht der Öffentlichkeit. So wie die Menschen die Nazis konfrontieren, die in Dresden aufmarschieren, so müssen wir die Machtstrukturen des Verfassungsschutzes konfrontieren und verändern, die genau dieselben Nazis bemächtigen.

Eine meiner liebsten Autorinnen des 20. Jahrhunderts, Ulrike Meinhof, schrieb: “Protest ist, wenn ich sage ich mag dieses oder jenes nicht. Widerstand ist, wenn ich dafür sorge, dass diese Dinge nicht mehr geschehen. Protest ist, wenn ich sage, ich mache da nicht mehr mit. Widerstand ist, wenn ich dafür sorge, dass auch andere da nicht mehr mitmachen.” Jetzt ist die Zeit für gewaltfreien Widerstand. Geschichte wiederholt sich, aber das Ergebnis ist nicht allein durch die Hoffnung vorherbestimmt, es wird wie alles andere durch Handlung bestimmt. Direkte, gewaltlose Handlung und mutiges Verkünden der Wahrheit – wir müssen uns weigern stumm zu bleiben und wir müssen unseren Standpunkt vertreten gegen Faschisten, wie auch immer sie sich offiziell nennen.

Wer ist dieser Jemand, der handeln soll? Ich. Du. Wir alle. Wer sind wir? Wir sind alle Anonymous.

Anm. d. Red.: Jeder, der sich für dieses Thema interessiert, sollte das Buch “Spying on America: The FBI’s Domestic Counterintelligence Program” von James Kirkpatrick Davis lesen. Dieses Buch sowie ein Freund Jacob Appelbaums, der auf der Beobachtungsliste des FBI steht, waren die Inspiration für diesen Text. Der Text, aus dem Englischen übersetzt von Anne-Christin Mook, wurde erstmals auf der transmediale.12 vorgetragen, im Rahmen eines Konferenzstrangs, dessen Chair der Berliner Gazette-Herausgeber Krystian Woznicki war. Die Fotos sind Details aus einem Foto von gato-gato-gato, das unter einer Creative Commons-Lizenz steht. Appelbaum hält am 4. Mai im Rahmen der re:publica 12 einen Vortrag.

4 Kommentare zu “Die Macht des anonymen Widerstands

  1. ein Aufschrei, der Not tut. Eine Perspektive, die spannend ist, bitte, eine Entschuldigung ist nicht nötig. USA und Deutschland, das ist einiges an Gemeinsamkeiten und der Essay spürt diesen Links nach. Danke für diese Anregung. Ich hoffe, es werden seriöse Forschungen folgen, und eine konstinuierliche Berichterstattung. Vielleicht findet sich auch der Datenberg des Verfschutzes eines Tages bei WL wieder…

Kommentar schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.