Alles über meine Mutter

Ich komme aus Deutschland. Wenn man es genauer betrachtet, aus der ehemaligen DDR. Geboren in einer Kleinstadt im nordwestlichen Brandenburg, genau auf halbem Weg von Berlin nach Hamburg. Doch spielt das irgendeine Rolle? Nein – bin ich jedenfalls der Meinung. Ich denke, wenn ich aus dem Westen kaeme, wuerden mich meine Freunde nicht anders behandeln.

Man hoert ja immer wieder mal irgendwelche Sprueche und Vorurteile gegenueber dem Westen. Doch diese sind wohl eher eine erzieherische Folgeerscheinung in den Reihen meiner Generation durch eine >Anti-West-Generation<. Von mir kann ich jedenfalls sagen, dass ich keine Vorurteile gegenueber dem Westen habe. Zumindest denke ich, keine zu haben. Doch wie sollte es auch anders sein, bei einer Mutter die nach sozialistischen Werten erzogen wurde und trotzdem seit ihrer Kindheit eine tiefe Freundschaft zu einer Westlerin pflegt? Sonntagnachmittag, Anfang dieses Monats. Ich sitze mit meiner Mutter im Garten. Wir plaudern ueber Gott und die Welt. Ich frage sie nach ihrer Brieffreundschaft. Die Augen vertraeumt in den blauen Himmel blickend, beginnt sie mir mehr zu erzaehlen: Damals in der 5. Klasse als noch Adressen fuer Brieffreundschaften mit russischen Kindern in der Schule verteilt wurden, konnte sie sich nicht wirklich dazu durch ringen. Doch wie es der Zufall so will, erklaerte sich meine Mutter doch dazu bereit, eine Adresse anzunehmen. Es stellte sich aber bald heraus, dass dies keine russische, sondern eine westdeutsche Adresse war. Es war der Beginn einer wunderbaren Freundschaft die nun schon seit 36 Jahren existiert. Nach neun Jahren reinem Briefkontakt ist es zum ersten persoenlichen Treffen gekommen. Vorab mussten jedoch ein paar Dinge mit den Behoerden des Ueberwachungsstaates abgeklaert werden. Die Papiere, die meine Mutter haette ausfuellen muessen, schickte sie ohne Bedenken per Post ueber die Grenze zu ihrer angeblichen Cousine. Doch auf dem Amt musste sie sich dann eine Predigt anhoeren, weil ihr aus versehen raus gerutscht war, dass sie die Papiere in den kapitalistischen Westen geschickt hatte. >Das sind geheime Dokumente, das duerfen Sie nicht einfach mit der Post schicken.<, sagte der Beamte zu ihr. Fruehjahr 1979 war es dann endlich so weit. Meine Mutter holte ihre Brieffreundin vom Provinzbahnhof ab. Das Maedchen aus dem Westen kam zum ersten Mal in >die Zone<, wie ihre Oma immer zu sagen pflegte. Die Tage des Besuchs vergingen schnell und die Freundin reiste wieder ab. Zuerst dachten meine Eltern, das sie keinerlei Andenken an ihren Besuch haben wuerden, doch dann kamen sie nach Hause und fanden ueberall in den Schraenken und Schubladen Suessigkeiten und kleine Geschenke. In den Jahren 1988 bis Anfang 1990 wohnte die Brieffreundin in West-Berlin. Daraufhin besuchte meine ganze Familie die >Tante aus dem Westen< oefter, wenn man auch nur bis zur Mauer kam, wo man sich dann zu Kaffee und Kuchen verabredete. Am 30. September 1989 traf man sich dann zum letzten Mal an der Mauer. >Das naechste Mal kommen wir durch das Brandenburger Tor und trinken bei dir Kaffee in der Lindenkirche.<, sagte meine Schwester damals, nichts wissend von den politischen Geschehnissen um sie herum. Fuenf Tage nach dem Mauerfall: Meine Familie fuhr zum ersten Mal nach West-Berlin. Leider zog die Freundin bald wieder zurueck nach Baden-Wuerttemberg. Somit war auch ein Grund fuer meine Eltern gegeben Ausfluege in die alten Bundeslaender zu machen. Meine Mutter koennte ewig weiter erzaehlen und ich koennte ihr ewig weiter zuhoeren. Doch irgendwann ist der sonnige Sonntagnachmittag vorbei. Am spaeten Abend, als es allmaehlich kuehler wird, gehe ich zurueck ins Haus. Ich setzte mich an den Computer und beginne die Erzaehlung meiner Mutter in Worte zu fassen. Immer wieder muss ich mir ein und dieselbe Frage stellen: Was ist eigentlich so interessant an der Geschichte meiner Mutter? Die gegenseitigen Besuche finden nun schon seit mehr als 15 Jahre regelmaessig statt und so wie es aussieht, ist ein Ende nicht in Sicht. Diese anhaltende Freundschaft zeigt mir: Auch in der Zeit eines geteilten Deutschlands gab es eine enge Verbundenheit zwischen Ost und West. Selbst wenn man im Osten die Wessis als Kapitalisten und anders herum die Ossis als Kommunisten abstempelte, so gab es genuegend Bruecken. Und das ist das, was auch heute fuer mich in erster Linie zaehlt.

Kommentar schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.